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INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN

2003

Vater Igor hält Gottesdienst

Bethel

DER ARСHITEKT DER BARMHERZIGKEIT

WEISSRUSSLAND 70 Jahre Kommunismus konnten der orthodoxen Kirche in Weissrussland wenig anhaben: Die Menschen kommen wieder in die Gottesdienste. Und: Die orthodoxe Kirche beginnt, die Diakonie zu entdecken - mit Hilfe aus Deutschland. Ein Beispiel aus Minsk

Die Brille

Die Brille! Wo ist die Brille? Vater Igor konnte sich den Bart zausen. Wenn der nicht ohnehin schon ein Zausebart wäre. Vater Igor klopft schnell noch mal die Taschen seines Talars ab. Der Bischof guckt schon. Seit mehr als zwei Stunden wiederholt der im Wechsel mit einer Handvoll ausgebildeter Sängerinnen und Sänger die heilige Liturgie. Tausende Gläubige sind am Bischof vorbeigezogen. Eigentlich will der jetzt abgelöst werden. Immerhin kurz nach Mitternacht. Nichts zu machen. Vater Igor hat die Brille vergessen.

Die Gläubigen

Draußen in der Dunkelheit wartet die Menge. Junge, Alte. Männer, Kinder. Frauen, die sich moderne Kleidung vom Brot absparen. Viele weinen ergriffen, manche singen leise. Vier bis fünf Stunden rücken sie langsam nach vorn, Stück für Stück. Dann sind auch sie an der Reihe. Jeweils 30 Leute dürfen in die Kirche "Zur Ikone der Gottesmutter aller Betrübten Freude", wo der Bischof die Liturgie singt und Vater Igor seine Brille sucht. Die orthodoxe Kirche hat in Weißrussland 70 Jahre Kommunismus praktisch unbeschadet überstanden. Kaum einer geht hier in der Hauptstadt Minsk an einer Kirche vorbei, ohne nicht wenigstens kurz einzukehren. Kerze anzünden, einen Moment dem gesungenen Gottesdienst zuhören, immer wieder sich bekreuzigen. Aber das hier ist etwas ganz anderes: Seit drei Uhr nachmittags zieht sich die Schlange der Gläubigen den schmiedeeisernen Zaun vor der Kirche entlang. Tausende, geduldig. 48 Stunden lang wird das so weiter gehen. Sie alle wollen den Heiligen Andreas sehen.

Die Reliquie

Der Heilige Andreas ist persönlich gekommen. Zumindest ein Stück von ihm: ein Knochensplitter, der dem Junger Jesu zugeschrieben wird. Der Splitter liegt unter einem Glasfensterchen, eingebettet in einen goldüberzogenen Fuß. Die Reliquie gilt als eines der größten Heiligtümer der Orthodoxen Kirche. Normalerweise wird sie von Mönchen auf einer abgesperrten Halbinsel bewacht, dem Berg Athos in Griechenland. Jetzt war die Reliquie als Gastgabe beim Stadtjubiläum im russischen St. Petersburg. Auf dem Rückweg nach Griechenland macht die Kostbarkeit fürü zwei Tage und Nächte in Minsk Station, in Vater Igors kleiner Kirche - eine Sensation. Die Gläubigen verbeugen sich tief vor dem Fuß aus Gold, küssen ihn, werden gesegnet und gehen mit einem Heiligenbildchen in der Hand zum Seitenausgang raus. Alles in anderthalb Minuten.

Die Miliz


Der Bischof blickt immer grimmiger. Vater Igor versucht, die Heiligen Schriften zu entziffern. Zwecklos. Die Brille muss her. Mit hochrotem Gesicht drangt sich Vater Igor durch die Menge, Richtung Gemeindezentrum. Diakone, Monche, Priester, Ministranten. Gläubige. Und die Miliz. Die Sicherheitskräfte sollen Reliquie und Gläubige schützen - vor wem? Am nächsten Morgen wird Vater Igor im Kreis von Vertrauten zurnen: "Die machen, was sie wollen. Ich bin nicht mehr Chef in meiner Kirche."

Das Zelt

1992 hat Vater Igor hier angefangen. Ein ausgedientes Militarzelt auf einem Stück Acker. Das war alles. Priester werden in Weißrussland von den Spenden der Gläubigen bezahlt. Hier, um den Acker am Westende der Stadt, musste Vater Igor eine Gemeinde erst mal sammeln. Eine Kirche wollte er bauen. "Verruckt" haben sie ihn damals genannt. Heute fährt Vater Igor einen stattlichen Geländewagen, blickt auf eine große Gemeinde, hat seine Kirche gebaut. Und gleich gegenüber entsteht eine Kathedrale.

 

Kathedrale im Bau. Davor die bisherige Kirche.

Hilfe für das Morgen: Beschäftigte, der weißrussischen "Werkstatt für behinderte Menschen" in Minsk.

Die Kathedrale

Mächtig rägt der Rohbau vor dem Gemeindezentrum auf. Seit 1994 baut Vater Igor an einer zweiten, größeren Kirche. Wann sie fertig sein wird? Gottes ewiger Ratschluss ... Mit seinem Kirchbau hatte Vater Igor ein bisschen zuviel Erfolg: Inzwischen interessiert sich auch Metropolit Philaret dafür, das Oberhaupt der orthodoxen Kirche in Weißrussland. Er hätte gern eine neue Kathedrale. Vater Igor hat sich nach der ersten Überraschung damit arrangiert. Den Metropoliten an seiner Seite - das kann auch Vorteile haben. Wäre der Heilige Andreas sonst heute zu Gast? Und außerdem: Was bleibt einem einfachen Priester auch sonst schon über?

Die Werkstätten

Kathedralen bauen ist in der orthodoxen Kirche die eine Sache. Behinderten helfen eine ganz andere. Es gibt kaum institutionell verankerte Sozialarbeit, anders etwa als in Deutschland Diakonie oder Caritas. Vater Igor, der in seinem früheren Leben Architekt war, bevor ihn Gottes Ruf ereilte, nahm sich von Anfang an der Armen und Schwachen an. Er war Seelsorger in Gefängnissen, kümmerte sich um psychisch Kranke. 1991 traf er in Minsk Herbert Wohlhüter, leitender Mitarbeiter der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel (Bielefeld), der großten diakonischen Einrichtung Europas. Ein halbes Jahr später rief er Wohlhüter an: "Kann ich mal kurz vorbeikommen?" Vater Igor sah sich Bethel an. Noch am gleichen Tag sagte er: "Ich will in Minsk ein kleines Bethel bauen."

Selbst seiner engsten Umgebung müsste das damals geradezu irre erscheinen: Auf dem Acker zuhause stand noch nicht einmal das Zelt. Und jetzt auch noch ein Zentrum für Behinderte. Das erste im Land überhaupt. Nach der offiziellen Verlautbarung von Stadt und Staat 'gab es in Weißrussland überhaupt keine Behinderten. Und was würde die gerade erst entstehende Gemeinde sagen, wenn sie jetzt auch noch Unterbringung und Werkstätten für Behinderte bezahlen sollte?

Das Gottvertrauen

Die Werkstätten haben ihren Betrieb aufgenommen, mitten im Gemeindezentrum. Kräftig mitfinanziert von Diakonischem Werk und Evangelischer Kirche von Westfalen sowie der UNESCO. Und eben Bethel. 130 Beschäftigte werden demnachst hier Platz haben, sich auf Zusammenleben und Berufvorbereiten können.
Während Igor aus dem Gemeindezentrum zur Kirche zuruckeilt - Brille in der Hand - kann er beobachten, wie aus der langen Schlange Wartender Rollstuhlfahrer, psychisch Kranke mit Angehorigen und weitere Menschen mit Behinderungen herausgefuhrt werden. Sie durfen ohne langes Warten in die Kirche. "Diese Gemeinde und ihre Werkstatten haben uns gelehrt, dass es auch bei uns Behinderte gibt", hatte am Tag zuvor ein Regierungsvertreter beim Festakt gesagt. "Und dass es gut ist, für sie zu sorgen."
Vater Igor ist zurück beim Bischof. Ausatmen. Einsingen. Blick nach oben. Kurz den deutschen Gasten zugenickt. Dann übernimmt er die Leitung des Gottesdienstes.

VON GERD-MATTHIAS HOEFFCHEN
foto: gerd-matthias höffchen

Die Woche

Juni 2003

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